Selbstverständlich Anderssein – Leben ohne Hetze, Hass und Krieg!“

Aufruf zum CSD 2022 in Marburg am 23. Juli 2022

Im Jahr 2022 leben queere Menschen in Deutschland scheinbar in Sicherheit. Politische Errungenschaften der LSBT*IQ-Bewegung, die seit den Stonewall Riots vor 53 Jahren erkämpft wurden, ermöglichen uns ein vergleichsweise offenes und freies Leben.

Trotzdem können sich auch heute längst nicht alle LSBT*IQ-Personen in der Öffentlichkeit zeigen. Von der heteronormativen Gesellschaft werden wir toleriert, vielleicht sogar akzeptiert, was aber immer an die Erfüllung bestimmter Rollenbilder geknüpft ist. Das binäre Konzept von Geschlecht sollte dabei am besten nicht gestört werden, ebenso wie die gesellschaftlichen Vorstellungen von Monogamie und Beziehungen. Die Gesellschaft ermöglicht uns also eine Existenz, die große Teile unserer Community ausschließt und unsichtbar macht. Viele können diese gesellschaftlichen Erwartungen nicht erfüllen, viele wollen sie aber auch gar nicht erfüllen. Solange es diesen Druck auf queere Menschen gibt, ist unsere Zugehörigkeit in dieser Gesellschaft nicht selbstverständlich. Selbstverständlichkeit ist nicht erreicht, solange die Zahl unserer Sexualpartner*innen weiterhin eine Rolle spielt. Wer viele Partner*innen hat, wird dafür diskreditiert. Gleichzeitig wird sexuelles Verlangen als Norm gesetzt, obwohl es Menschen gibt, die keine oder wenig sexuelle Anziehung zu anderen Menschen empfinden.

Selbstverständlichkeit ist auch nicht erreicht, solange sichtbare Kinks und Fetische nach konservativem Werteverständnis als pervers gelabelt und verbannt werden, angeblich, weil Kinder davor geschützt werden müssen. Nicht selten geschieht dies vorauseilend aus den eigenen Reihen.

Wir, die LSBT*IQ-Community sind sehr vielfältig in Bezug auf unsere Lebens-, Liebens- und Beziehungsformen. Wir sind Schwarz, People of Colour, Geflüchtete, sind behindert, haben HIV. Wir haben Wege gefunden, wie wir aus der binären Geschlechtsidentität ausbrechen können, soweit das in unserer Gesellschaft möglich ist. Wir haben die Möglichkeit, unsere sexuellen Fetische weit über das gesellschaftlich als „Normal“ empfundene auszuprobieren.

Wenn wir also fordern, dass wir „selbstverständlich anders“ sein wollen, dann muss dies auch heißen, aus der gesellschaftlichen Norm ausbrechen zu können. Selbstverständlich ist das erst, wenn wir keine Angst vor gesellschaftlichen Repressionen haben müssen. Von dieser Selbstverständlichkeit sind wir leider auch im Jahr 2022 noch weit entfernt.

Im vergangenen Jahr wurden laut offizieller Statistik über 1000 Straftaten gegen uns queere Menschen begangen, darunter fast 200 Gewalttaten. Die Dunkelziffer wird noch einmal deutlich höher sein, selbst viele Behörden gehen davon aus, dass nur jede zehnte Straftat angezeigt wird.

Selbstverständlichkeit ist auch noch nicht erreicht, solange Trans*-Personen weiterhin vom sogenannten „Transsexuellengesetz“ genötigt werden, sich aufwendigen, grenzverletzenden und teuren Untersuchungen zu unterwerfen, bevor ihnen ihre Identität geglaubt wird. Das ist menschenverachtend und entwürdigend! Es braucht dringend ein Selbstbestimmungsgesetz, dass seinem Namen auch gerecht wird und endlich Selbstbestimmung im Bezug auf den eigenen Körper und die eigene Identität ermöglicht. Das sollte für alle Menschen längst selbstverständlich sein. Weg mit dem unmenschlichen TSG, weg mit Paragraf 218 ! Her mit Rechten, die uns, unsere Vielfalt und unsere Körper schützen!

Aus Hass…

Bloß weil wir das Selbstbild von einigen irritieren, werden wir gehasst, sei es aus ideologischen Gründen, religiösen Motiven oder der schlichten Unfähigkeit, unser Anderssein zu akzeptieren. Wir leben jederzeit in der Gefahr, solchem Hass zu begegnen: wenn wir uns in unseren Familien outen, wenn wir auf offener Straße unterwegs sind, wenn wir mit unseren Partner*innen öffentlich sichtbar sind. Manche trifft dieser Hass auch in unseren eigenen Communitys, wenn die Abwertung aufgrund von Rassismus, Behindertenfeindlichkeit oder anderen Eigenschaften stattfindet.

Entsteht Hetze!

Hetze wie in Polen und Ungarn, wo wir in den jeweiligen Wahlkämpfen als Sündenbock für rechte Regierungen hinhalten mussten. Hetze wie in Russland, wo unsere Rechte schon seit Jahren eingeschränkt werden und Gewalt wie in Tschetschenien, wo schwule und queere Menschen vom Staat aktiv gefoltert und ermordet werden.

Der russische Angriffskrieg bedeutet vor allem für unsere ukrainischen Geschwister unvorstellbares Leid und Traumatisierung. Innenpolitisch wurde der Angriffskrieg in Russland unter anderem über queerphobe Narrative und Aussagen legitimiert und unterstützt. Eine schwierige Situation erleben gerade trans*- und inter-Personen. Dadurch, dass im Augenblick der Geschlechtseintrag im Ausweis darüber entscheidet, ob man aus der Ukraine ausreisen kann oder kämpfen muss, sind trans* und inter* Personen jetzt wieder von ihrem Geschlechtseintrag abhängig. Völlig egal, ob die Personen sich in der Zeit davor von diesem Eintrag emanzipiert haben oder nicht.

Und was geschieht bei uns? Der Krieg wird instrumentalisiert, um eine Rückbesinnung auf militaristische und nationalistische Ideen zu befeuern.In dieser geschichtsvergessenen Logik gibt es aber für uns definitiv nichts zu gewinnen. Ein nationalistischer Volksbegriff war und wird niemals queerfreundlich sein. Er ist außerdem rassistisch, antisemitisch und frauenfeindlich, er ist gefährlich. Deswegen darf er sich in unserer Gesellschaft nicht durchsetzen!

Für ein Leben, in der wir ohne Angst verschieden sein können!

Die Hetze und der Hass haben vor allem ein Ziel: Sie sollen uns dazu bringen, Angst zu haben und auf jegliche Sichtbarkeit zu verzichten. Deswegen müssen wir dieses Jahr noch viel deutlicher zeigen, dass wir keine Angst haben und uns nicht aus dieser Gesellschaft drängen lassen. Wir müssen die Straßen von Marburg fluten, um unübersehbar zu sein. Wir müssen für die Millionen von Menschen laut sein, deren Mund dieses Jahr zugehalten wird, sei es von staatlicher Repression, von Kriegen oder vom eigenen Umfeld. Wir müssen zeigen, dass wir als Community füreinander einstehen und wir erst sicher sind, wenn alle sicher sind. Wir müssen zeigen, dass wir vor unserer eigenen Vielfalt keine Angst haben. Wir müssen zeigen, dass wir selbst entscheiden, wie wir leben wollen und das nicht von vorgefertigten Normen abhängig machen.

Für all das gehen wir am 23.07.22 in Marburg auf die Straße. Denn wir leben, lieben, sehen aus, haben Sex und das „selbstverständlich anders – trotz Hetze, Hass und Krieg“. Das lassen wir uns nicht nehmen!

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„Being different as a matter of course – life without agitation, hatred and war!“

Call for the CSD 2022 in Marburg on July 23, 2022.


In 2022, queer people in Germany seem to live in safety. Political achievements of the LGBT*IQ movement, fought for since the Stonewall Riots 53 years ago, allow us to live quite open and free.

Nevertheless, even today not all LGBT*IQ people can show themselves in public. We are tolerated, maybe even accepted by the heteronormative society, but this is always linked to the fulfillment of certain role models. The binary concept of gender is best not disturbed in the process, as are societal ideas of monogamy and relationships. So society enables us to exist in a way that excludes and makes invisible large parts of our community. Many cannot meet these societal expectations, but many do not want to meet them. As long as there is this pressure on queer people, our belonging in this society cannot be taken for granted. Self-evidence is not achieved as long as the number of our sexual partners continues to play a role. Those who have many partners are discredited for it. At the same time, sexual desire is set as the norm, even though there are people who feel little or no sexual attraction to other people.

Nor is self-evidence achieved as long as visible kinks and fetishes are labeled as perverse and banned according to a conservative understanding of values, supposedly because children need to be protected from them. Not infrequently, this happens in advance from within their own communities.
We, the LGBT*IQ community are very diverse in terms of our ways of living, loving and relating. We are Black, people of color, refugees, are disabled, have HIV. We have found ways to break out of binary gender identities, as much as that is possible in our society. We have the opportunity to try out our sexual fetishes far beyond what is perceived as „normal“ by society.

So if we demand to be „different as a matter of course“, this must also mean being able to break out of the social norm. This is only self-evident if we do not have to fear social repression. Unfortunately, we are still far away from this self-evidence in 2022.
Last year, according to official statistics, over 1000 crimes were committed against us queer people, including almost 200 acts of violence. The number of unreported cases will be much higher, even many authorities assume that only every tenth crime is reported.
Self-evidence has also not yet been achieved as long as trans* people continue to be coerced by the so-called „transsexual law“ to submit to elaborate, border-violating and expensive examinations before their identity is believed. This is inhuman and degrading! There is an urgent need for a self-determination law that lives up to its name and finally enables self-determination with regard to one’s own body and identity. This should be a matter of course for all people. Away with the inhumane TSG, away with paragraph 218 ! Give us rights that protect us, our diversity and our bodies!
Out of hate…

Just because we irritate the self-image of some, we are hated, be it for ideological reasons, religious motives or the simple inability to accept our otherness. We live in danger of encountering such hatred at any time: when we come out in our families, when we are out on the streets, when we are visible in public with our partners. For some, this hatred also occurs in our own communities, when devaluation takes place because of racism, ableism, or other characteristics.Arises agitation!


Agitation like in Poland and Hungary, where we had to serve as scapegoats for right-wing governments in the respective election campaigns. Agitation like in Russia, where our rights have been restricted for years, and violence like in Chechnya, where gay and queer people are actively tortured and murdered by the state.

The Russian war of aggression means unimaginable suffering and trauma, especially for our Ukrainian brothers and sisters. Domestically, the war of aggression was legitimized and supported in Russia, among other things, through queerphobic narratives and statements. A difficult situation is experienced by trans* and inter persons in particular. Due to the fact that at the moment the gender entry in the identity card decides whether one can leave Ukraine or has to fight, trans* and inter* persons are now again dependent on their gender entry. It doesn’t matter whether the people emancipated themselves from this entry beforehand or not.

And what is happening to us? The war is used to fuel a return to militaristisc and nationalistic ideas. In this history-forgotten logic there is definitly nothing to gain for us. A nationalistic concept of people has never been and never will be queer-friendly. It is also racist, antisemitic and misogynist, it´s dangerous. Therefore it mus not assert itself in our society!

For a life where we can be different without fear!

The agitation and hatred have one goal above all: they should scare us and give up any visibility. That´s why we have to show even more clearly this year that we´re not afraid and won´t let ourselves be pushed out of this society. We have to flood the streets of Marburg to be conspicuous. We must speak out for the millions of people whose mouths will be covered this year, whether by government repression, wars, or their communities. We have to show that we stand up for each other as a community and that we are only safe when everyone is safe. We must show that we are not afraid of our own diversity. We have to show that we can decide for ourselves how we want to live and not make it dependent on ready-made norms.

For all of this we will take to the streets in Marburg on 07/23/22. Because we live, love, look, have sex and „of course differently – despite agitation, hatred and war„. We won´t let that be taken from us!